Work-Life-Challenge

Von Work-Life-Balance zu neuer Lebenskultur: Aus dem Ringen um den Ausgleich zweier konkurrierender Leben zu einem wird eine organische Einheit in wechselseitiger Durchdringung. Aber heißt Arbeiten von überall auch immer arbeiten? Ein Blick in unseren Lebensalltag von morgen aus der sogenannten Gegenwart.
Normalerweise gleichen gesellschaftliche Transformationen dem Gras: Man muss schon ein verdammt empfindsamer Seismograph sein, um es wachsen zu hören. Die Corona-Pandemie wirkte da wie ein Zeitraffer: Sie hat die Prozesse der Veränderung so beschleunigt, dass diese erstmals mit bloßem Auge zu beobachten waren.
Eben fuhr die Arbeitnehmergesellschaft noch morgens mit U-Bahn oder Fahrrad ins Büro, brainstormte in Konferenzräumen, auf deren Tischen ein kleiner Stelenwald von Agua-Fläschchen stand, ließ sich wichtige Telefonate ins Einzelbüro mit Zimmerpflanze durchstellen, steckte ihren Laptop im Großraumbüro in die entsprechende Schnittstelle und grüßte auf dem Weg zur Kantine mit „Mahlzeit!“. Doch dann kam Corona, und es stellte sich heraus, dass ein Riss durch die Arbeitswelt geht, der einem Unterscheidungsmerkmal folgt, über das vorher keiner nachgedacht hatte, weil es als Differenzkriterium historisch noch funktionslos war: nämlich dass es Jobs gibt, die Homeoffice-fähig sind, und solche, die das nicht sind. Eine ganze Kaskade von ökonomischen, kulturellen, gesundheitspolitischen und familienpsychologischen Konsequenzen zieht diese Grundunterscheidung nach sich, sie sortiert die Gesellschaft auf neue Weise in zwei Klassen. Glücklich, wer einem Pandemie-resistenten, weil Homeoffice-fähigen Beruf nachgeht.
„Glücklich, wer einem Pandemie-resistenten, weil Homeoffice-fähigen Beruf nachgeht.“
Die Unterscheidung folgt zum Teil alten, schon bisher gebräuchlichen Kategorien (je immaterieller der Wertschöpfungsprozess, desto besser), aber eben nicht völlig. So finden sich, um nur ein Beispiel zu nennen, Sänger und Musiker (und ganz besonders Chorsänger!) plötzlich auf der Verliererseite wieder, während der Lockdown auf die Lieferservice-Branche wie ein Turbo gewirkt hat. Teile des Dienstleistungsprekariats profitieren von der neuen Distanzkultur, während sie für bestimmte Teile der Kreativwirtschaft das Aus bedeutet.

Zukunftssicher zu Hause
Wer im März dieses Jahres – vielleicht fast ein wenig überrascht – feststellte, dass er einen Homeoffice-fähigen Job hatte, fühlte sich jedenfalls krisensicher und – unverdientermaßen – zukunftsfähig. Smart Jobs waren jene, für die es keine kollektive Büro- oder Produktionsinfrastruktur mehr brauchte.
„Jene Dörfer, die eben noch unter Landflucht litten, ziehen im Zeichen von Homeoffice, schnelles Internet vorausgesetzt, eine ganz neue Gentry an: vom Laptop in die Gummistiefel, um zur Meditation zwischendurch mal den Rasen zu mähen.“
Dabei machten die Schrecken der Pandemie nur möglich, wovon vorher schon viele geträumt hatten: dass sich ein modernes Leben geografisch nicht mehr um den Arbeitsplatz zentrieren muss. Homeoffice, eben noch ein krisenbedingtes Not-Manöver, stellte beim zweiten Nachdenken die Frage auf neue Weise, wo dieses „Home“ eigentlich lokalisiert ist? Wenn ich genau so gut von zu Hause aus arbeiten kann, muss ich in Wahrheit auch nicht mehr im S-Bahn-Radius meines
Arbeitgebers 50 Prozent meines Nettogehalts für teure Großstadtimmobilien ausgeben. Jene Dörfer, die eben noch unter Landflucht litten, ziehen im Zeichen von Homeoffice, schnelles Internet vorausgesetzt, eine ganz neue Gentry an: vom Laptop in die Gummistiefel, um zur Meditation zwischendurch mal den Rasen zu mähen.

Dieser Geist, einmal aus der Flasche, lässt sich nicht mehr zurückbringen. Schön also, dass Amazon nicht der einzige Pandemie-Gewinner ist! Alles Ständische verdampft, alle Strukturen werden noch fluider – so gesehen hat der Corona-Schock nur eine Tendenz verdeutlicht, die ohnehin im Digitalkapitalismus schon angelegt war. Weshalb die kulturellen Anpassungsprozesse, die mit dieser neuen Arbeitsform einhergehen, tatsächlich schon vorher eingeübt waren. Der
physische Kontrollverlust, der mit Arbeit im Homeoffice einhergeht, dürfte die Hauptsorge des Arbeitgebers gewesen sein. Der alte Büro-Alltag war immer auch in eine Architektur von „Überwachen und Strafen“ eingefügt. Die traditionellen Zeiterfassungssysteme waren nicht zufälligerweise wie Zollstationen an der Büro-Außengrenze stationiert. Gemessen, „erfasst“, wurde Anwesenheit, nicht Produktivität. Das war für einen smarteren Kapitalismus immer schon ein bisschen unterkomplex.
Selbstoptimierung ist auch ein Zwang
Die moderne Gesellschaft, heißt es gerne kritisch, habe den Fremdzwang durch den Selbstzwang ersetzt. Das ist nicht zu bestreiten. Und das Über-Ich ist im Zweifelsfall der strengere Zuchtmeister als der Vorgesetzte mit den aufgeblasenen Backen. Was Kapitalismuskritiker diesem, dem Kapitalismus, am liebsten vorwerfen, dass er nämlich alle Bereiche des Lebens auf Selbstoptimierung umgestellt habe, dieser Prozess wird in der Post-Büro-Ära noch beschleunigt.
Schon die Videokonferenz im Homeoffice ist ein Balance-Akt, weil die eigene Individualität nun in den eigenen vier Wänden inszeniert werden muss: O Gott, jetzt sehen die Kollegen, wie unaufgeräumt es bei mir zu Hause in Wahrheit aussieht, dabei hatte ich doch immer mit dem Bild des Zwangsneurotikers kokettiert! Umgekehrt erweitert es den Raum der Selbstdarstellung: Endlich kann man mal den eigenen Geschmack voll ausspielen, indem man die Webcam am
Laptop so einstellt, dass der Blick durch die Balkontür in die weitere Gartenlandschaft den Kollegen einen umfassenderen Eindruck von der Seelentiefe der eigenen Persönlichkeit vermittelt. Und der Umstand, dass die Altbauwohnung tatsächlich lichtdurchflutet ist, hilft zugleich, die eigene Person vor der Kamera besser auszuleuchten – dieses warme Licht und die eigenen positiven Vibes werden für die Kollegen da draußen am Netz ein und dasselbe. Allerdings darf der Eindruck auch nicht zu entspannt sein, nicht zu sehr nach dolce vita ausschauen, sonst könnte der Verdacht aufkommen, dass einem das Homeoffice gar zu gut tut, schließlich leben wir noch immer in einer leistungsprotestantischen Askese-Matrix.

„Wenn es immer individualisiertere Leistungen sind, die der digitale Kapitalismus abfragt, ist logischerweise auch die Infrastruktur, in der diese Leistung erbracht wird, immer individueller.“
Wenn es immer individualisiertere Leistungen sind, die der digitale Kapitalismus abfragt, ist logischerweise auch die Infrastruktur, in der diese Leistung erbracht wird, immer individueller. Kann ich dann mein Landhaus, dieses grüne Inspirationsbüro der Zukunft, von der Steuer absetzen? Oder kollabiert dann die Unterscheidung von Körperschafts- und Einkommenssteuer?
Der Soziologe und Gegenwartsdiagnostiker Andreas Reckwitz spricht von der „Gesellschaft der Singularitäten“, um unsere Moderne zu beschreiben. Hatte der Industriekapitalismus die Norm prämiert, wirft im immateriellen Digitalkapitalismus die Normabweichung, die Idiosynkrasie, der Regelbruch den höchsten Mehrwert ab. Um es paradox zu formulieren: Der Anpassungsdruck geht auf Nicht-Anpassung. Jeder muss sich heute glaubwürdig als Freak präsentieren können, und
spätestens seit Dieter Zetsche trägt man auch in DAX-Konzernen keine Krawatte mehr. Jedes Leben muss sich als singulär anpreisen, um nicht in der grauen Masse unterzugehen. Twitter und Facebook sind Singularisierungsmaschinen, sie bedienen weniger einen kulturkritisch diagnostizierten Narzissmus als den Einzigartigkeitsbedarf des Kapitalismus, der selbst seine Massenproduktion zu individualisieren versucht: Stell dir deine ganz persönliche Pizza zusammen! Ein Sparplan, genau auf dich zugeschnitten!
„Wenn Arbeit das ist, was dem Leben Struktur gibt, was macht das dann mit unseren Leben, wenn diese strukturgebende Kraft der Arbeit immer mehr selbst organisiert werden muss?“

Der Trend zum Homeoffice fügt sich diesem Singularisierungsprozess unendlich smooth ein. Aber alle Individualisierungsprozesse haben auch ihren Preis. Kollektive Lösungen wirken reflexionsentlastend. Wenn Arbeit das ist, was dem Leben Struktur gibt (so war es idealtypisch in der fordistischen Lebenswelt, deren Normierung direkt vom Fließband auf die häuslichen vier Wände übersprang und so höchst standardisierte Wohn- und Lebensformen hervorbrachte), was macht das dann mit unseren Leben, wenn diese strukturgebende Kraft der Arbeit immer mehr selbst, also individuell organisiert werden muss? Die Ich-AG war nur ein schwacher Vorschein der Freiheits- und Selbstorganisationsgrade, die die neue Post-Corona-Arbeitswelt bestimmen werden. Der Gewinn an Freiheit und die Last der Selbstorganisation gehen Hand in Hand.
Die traditionelle Büroarchitektur wird mutmaßlich zu den Freiheitsgewinnern gehören: Aus der harten Hand der Notwendigkeit entlassen (wir brauchen Platz für Schreibtische für alle Mitarbeiter!) öffnet sie sich für das Reich des Spiels. Der einzige Grund, sich noch im Büro zu treffen, ist, dass dort ein bestimmter gruppendynamischer Inspirationsprozess gezündet wird. Umgekehrt dürfte das häusliche Büro der herberen Notwendigkeit folgen, denn solange es noch nicht inklusive Heizkosten und Familienbad-Mitbenutzung dem Arbeitgeber in Rechnung gestellt werden kann, wird es sich möglichst platzsparend in den privaten Lebensalltag einfügen müssen, und zwar so, dass es die binnenfamiliären Kommunikationen nicht zu sehr stört bzw. von diesen nicht zu sehr gestört wird. Es wird einige Zeit brauchen, bis auch im Homeoffice neue Grenzen (des Selbstschutzes) gezogen werden: Wenn das Zuhause zum Produktionsstandort wird, verliert das ohnehin schon sehr museale Wort Feierabend jede Bedeutung. Irgendeine neue Form von „Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst“ wird aber auch in der Post-Corona-Arbeitswelt überlebensnotwendig sein. (Lesen Sie auch: Ijoma Mangold im Video über Home-Office und Work-Life-Balance)

